Himmelstraße : Geschichte meiner Familie

Fischer, Erica, 2007
Schulbibliothek LIBS
Verfügbar Ja (1) Titel ist in dieser Bibliothek verfügbar
Exemplare gesamt 1
Exemplare verliehen 0
Reservierungen 0Reservieren
Medienart Buch
ISBN 978-3-87134-584-5
Verfasser Fischer, Erica Wikipedia
Systematik DR - Romane, Erzählungen, Novellen
Systematik WEB - Importe aus Online-Katalogisierung
Interessenskreis Schüler, Lehrer
Schlagworte Familie, Erinnerungsliteratur, Roman
Verlag Rowohlt Berlin
Ort Berlin
Jahr 2007
Umfang 250 S.
Altersbeschränkung keine
Auflage 1. Aufl.
Sprache deutsch
Verfasserangabe Erica Fischer
Annotation Gedenken ohne Nachsicht Erica Fischer erinnert sich an die Familie Kurz nach dem Tod der Mutter "verschwindet" ihr Bruder Paul aus der elterlichen Wohnung, in der er sein ganzes Leben verbracht hat. Überzeugt, dass Paul diesmal den Selbstmordversuch, der zwanzig Jahre zurückliegt, vollbracht hat, beginnt Erica Fischer ihr Erinnerungsbuch. Es erzählt die Geschichte ihrer Eltern, eines Wiener Sozialisten und seiner aus Polen stammenden, ebenfalls politisch engagierten jüdischen Frau, die vor den Nationalsozialisten ins englische Exil flüchten; die Geschichte der Großeltern mütterlicherseits, die in Treblinka ermordet werden, und die Geschichte der Rückkehr der Eltern ins Wien der Nachkriegszeit, in dem die im Exil geborenen Kinder, Erica und ihr jüngerer Bruder Paul, aufwachsen. Die politisch-historischen Fakten - nicht eben wenig Stoff - bilden jedoch nur den Ausgangspunkt für die Beschäftigung der Autorin mit ihrer Familie auf persönlicher Ebene, geprägt von Wut und Schmerz, durchbrochen manchmal von Zweifeln und Gewissensbissen, seltener von Mitleid. Ähnlich ambivalent ist der Umgang mit der eigenen Rolle. Die Autorin scheint sich nicht entscheiden zu können, ob sie "davongekommen" ist, wie es im Klappentext heißt, ob sie also den Absprung aus dieser nachvollziehbar unglücklichen Familie geschafft hat, oder ob sie nicht, im Gegenteil, von Bruder und Mutter abgelehnt, verstoßen wurde. Merkwürdig unangefochten bleibt der Vater. Zwar erwähnt Erica Fischer, dass sie ihn gern gefragt hätte, wie er denn nur seine jüdische Frau veranlassen konnte, nach Wien zurückzukehren, sie schildert, wie "der Linkssozialist und Agnostiker" im Glauben an "preußische Erziehungsmethoden" den kleinen Bruder mit Ledergürtel oder Teppichpracker schlug, aber dass er fesch war, charmant war, scheint aufzuwiegen, dass er die Mutter ganz offensichtlich betrog und an der Familie vorbei sein eigenes, reichlich egoistisches Leben führte. Dass das kleine Mädchen sich mit dem starken Vater identifizierte, mag verständlich und für dieses überdies wichtig gewesen sein, um einen unabhängigen Weg einzuschlagen, dass aber die erwachsene Frau den gesellschaftspolitischen Sprengstoff in dessen Rolle nicht hinterfragt, irritiert. Natürlich: Das Erkenntnisinteresse ist ein grundsätzlich anderes, je nachdem, ob man der Frage nachgeht, welchen Zusammenhang die individuelle Familiengeschichte mit dem Konservatismus der fünfziger Jahre, dem Verschweigen der Verbrechen der unmittelbaren Vergangenheit hatte, oder ob man die Spuren einer (mag sein: objektiv) unangenehmen, grantigen, jammerigen Mutter rekonstruiert. Nur: der unangenehmen, grantigen, jammerigen Mütter sind so viele und ihre Spuren sind in so vielen Romanen der siebziger Jahre rekonstruiert worden, dass der Erkenntniswert solcher Rekonstruktionen mittlerweile recht gering ist, wenn der Grant der Mütter nicht mit seinen Ursachen in Beziehung gesetzt wird. Da ist zum einem das Geschlechterverhältnis. Erica Fischer schreibt, sowohl ihr Bruder als auch sie seien überzeugt gewesen, "dass wir in England glücklichere Menschen gewesen wären". Sie beschreibt, wie der Bruder die Mutter bestürmte mit der Frage, "warum sie eingewilligt habe, dem Vater nach Österreich zu folgen", und Fischer selbst gibt eine Antwort auf diese Frage: "Gewiss war es die Angst vor der unsicheren Zukunft gewesen, als alleinstehende Frau mit einem Kleinkind so kurz nach dem Krieg. Und es war Liebe." Wahrscheinlich ist der Autorin als einer der einflussreichsten österreichischen Feministinnen bewusst, dass bei der Entscheidung nach dem Lebensmittelpunkt - von Liebe und Kindern abgesehen - Ende der vierziger Jahre nicht einmal die Gesetzeslage auf Seiten unabhängiger, selbstständiger Frauen stand; aber dieses Wissen macht sie der Mutter gegenüber nicht einmal rückblickend versöhnlicher, so wenig wie die Reise nach Treblinka, die Erschütterung "zwischen dem Waldfrieden jetzt und dem, was einst hier los war" eine Erschütterung darüber auszulösen vermag, was ihre junge jüdische Mutter durchlitten haben muss, die gleichzeitig Kenntnis bekam von der Shoa, der ihre Eltern zum Opfer fielen, und dem Wunsch ihres Gatten nach Rückkehr ins Land der Täter. "Eigentlich führten wir ein traditionelles Familienleben, die Mutter war für den Alltag zuständig, für die Küche und unsere Kleidung, der Vater, abends nach Büroschluss, für die intellektuelle und politische Bildung. Bloß dass die Mutter sich nicht in diese Rolle fügte." Ein besseres Vorbild konnte eine Tochter in den fünfziger/sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sich doch gar nicht wünschen! Aber nicht an diese Widerständigkeit erinnert sich knapp fünfzig Jahre später die Tochter beim Erinnern, sondern daran, dass die Mutter "Ich bin eine schlechte Hausfrau" trompetete, wenn sie das Essen auftrug, und der Bruder "Pfui Teufel, wieder so ein Fraß" maulte. Der Herr Papa fehlt bezeichnenderweise in der Szene und die Autorin steht darüber: "Jeden Tag dasselbe Theater." Ob ihr das Essen schmeckte, der Vater fehlte? Zu beschreiben, wie sehr Mutter und Bruder nervten, genügt offenbar. So wenig wie Zweifel an der Vereinbarkeit linkssozialistischer Überzeugungen und preußischer Erziehungsmethoden aufsteigen, unterliegt die Einschätzung der zweifellos problematischen Persönlichkeiten einer Entwicklung. Auch die Schwester, die am Tisch saß und ob des Theaters verständlicherweise die Augen verdrehte, wird keiner Musterung aus unterschiedlichen Perspektiven unterzogen. Die aber machen den Erkenntniswert von Erinnerungen aus. Dem Buch fehlt der liebevolle oder wenigstens einfühlsame Blick. In der Beschreibung des "todtraurigen Geschäfts des Älterwerdens", im Thema ihres eigenen Unbegehrt-Seins, das anfangs befremdlich und unvermittelt erscheint inmitten dieser Spurensuche nach den ermordeten und den unglücklich, aber friedlich verstorbenen, den verschwundenen, vermissten Mitgliedern der Familie, schließt sich der Kreis. Nicht einmal die sexuelle Lust wird libidinös besetzt, die lasziven Abenteuer lassen in ihrer Gejagtheit keine Begegnung zu, der Blick auf den eigenen Körper, der in den Spuren des Alterns doch immerhin die Spuren eines gelebten Lebens enthielte, wird hasserfüllt dem Vergleich mit den "von elfengleichen Mädchen bevölkerten Frauenmagazinen" ausgeliefert. Es ist ein erschütterndes Buch. Weil es offenbart, wie blind verstrickt die Menschen in sich und in ihren Vorstellungen sind. Salut, Paul! Der Anlass war zu diesem Buch und der in dieser Besprechung so wenig vorkam wie in seinem Leben, und der doch ein wichtiger Grund ist, das Werk zu lesen, das unter dem schönen Titel "Himmelstraße" einen höllischen Weg beschreibt. *Literatur und Kritik* Susanne Alge
Bemerkung Katalogisat importiert von: onlineRezensionen (ÖBW)
Exemplare
Ex.nr. Standort
3901 DR, Fis